Ingrid Zietlow: Volksröntgenaktion

Ingrid Zietlow
„Volksröntgenaktion“
1959, Diplomgemälde
120 x 170 cm; Öl / Leinwand
Kustodie der HfBK Dresden, Inv.-Nr. A0125

Ingrid Zietlows (1936-1990) Diplomgemälde von 1959 hebt sich ab im Gemäldebestand DDR der Kustodie der HfBK Dresden. Zu sehen ist eine Frau mit weißem Kittel und drei Männer unterschiedlichen Alters mit freien Oberkörpern sowie eine Nebenraum mit geöffneter Tür, an dessen Griff sich einer der Männer, jener im mittleren Alter und im Vordergrund des Bildes, festhält. Alle Details, beispielsweise neben dem Schaltgerät auch die angedeutete, vermeintliche Messstange im Nebenraum, lassen eine ärztliche Untersuchung vermuten. Der Titel des Gemäldes, „Volksröntgenaktion“, bestätigt dies und konkretisiert zudem die dargestellte Situation. Nun lässt sich der Nebenraum deuten – es handelt sich hier um den Aufnahmeraum, wo die vorgesehene Person durchleuchtet wird. Der Raum schließt durch eine Schiebetür; der auffällige Griff dieser Tür ist in der linken Hand des Mannes im Vordergrund erkennbar, gleichfalls dient die angedeutete Stange im Inneren des Raumes zur Fixierung der zu untersuchenden Person. Auch der Röntgenfilm in den Händen der Ärztin, die die Aufnahmen dem älteren Mann in der Mitte zu präsentieren scheint, sowie das Schaltgerät der Röntgenanlage, an dem die Ärztin die Anlage in Betrieb setzt, verweisen auf eine Röntgenaktion. Hierbei eruiert die Motivik des Gemäldes auf eine Gesundheitskampagne der DDR, die im Übrigen auch in der BRD durchgeführt wurde.

Ingrid Zietlow hat hier die in der DDR groß angelegte respektive flächendeckende Maßnahme zur Bekämpfung von Tuberkulose festgehalten, die 1946 von der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) befehligt, aufgebaut und strukturiert worden war und ab 1949 als „Volksröntgenreihenuntersuchung (VRRU)“ flächendeckend angewendet wurde. Tuberkulose, auch als weiße Pest bezeichnet, gehörte zu den verheerenden, ansteckenden Krankheiten, die zahlreiche Todesopfer forderte. Mit der Entdeckung der Röntgenstrahlen gegen Ende des 19. Jahrhunderts hatten die Ärzte ein Instrument in der Hand, um die Krankheit bildgebend und zur Früherkennung zu untersuchen; ab den 1930er Jahren war die Technik so ausgereift, dass mit mobilen Instrumenten jene Reihenuntersuchungen möglich wurden. Hiernach entstand ein großes Untersuchungsnetz in Deutschland, das nach kriegsbedingter Zerstörung schnellst möglich wieder organisiert wurde. Inzidenz und Mortalität waren extrem hoch; im Jahr 1949 gab es beispielsweise 600 Tuberkuloseerkrankungen auf 100.000 Personen (Romberg 2011, S. 9).

Das erste Gesetz zur Tuberkulosebekämpfung wurde in Sachsen 1947 formuliert; von hier aus wurden alle Einrichtungen und Maßnahmen der Tuberkulosebekämpfung mit einem Organisationsplan zentral zusammengefasst und Reihenuntersuchungen in Betrieben und bei bestimmten Berufsgruppen durchgeführt. Hierzu stand ein Omnibusanhänger mit „Schirmbildgerät“, später mehrere zur Verfügung, zudem wurden in Dresden einsatzfähige transportable Kistengeräte gebaut. Ab 1956 begann die systematische Röntgenuntersuchung der ganzen Bevölkerung, die vermeintlich auf freiwilliger Basis angeboten wurde. Um die ‚Freiwilligkeit‘ zu kontrollieren, setzten die Gesundheitsbehörden kreative Strategien ein und warben umfänglich mit Kampagnen.

In diesem Zusammenhang kann auch Ingrid Zietlows Gemälde gerückt werden, d.h. es stellt nicht nur die Röntgensituation, sondern auch ihre Bedeutung, ihren Nutzen in werbender Absicht für die Sache dar. Die drei männlichen Lebensalterdarstellungen verdeutlichen das Anliegen: der gesunde Körper in strahlender Körperlichkeit im Vordergrund, gleich dahinter der kranke, ältere Mann, an dessen Brustkorb die Künstlerin die Zeichen der Tuberkulose festhält, und im Hintergrund der junge Mann, der für seine Altersklasse steht, die aufgeklärt und ebenfalls in die Untersuchung einbezogen werden sollen. Ab 1962 wurde die Tuberkuloseuntersuchung schließlich obligatorisch; alle Personen über 15 Jahre sollten jährlich an der VRRU teilnehmen. Mit dem sogenannten „Röntgenzug“, also einer mobilen Einheit mit eingebauter Röntgeneinrichtung konnten jährlich 115.000 Aufnahmen (Röntgenbilder Format 70 x 70) erzielt werden, letztlich in der ganzen DDR mit ca. 130 Geräten pro Jahr ca. 15 Millionen Thoraxaufnahmen (Romberg 2011, S. 64). Letztlich trug die VRRU zur Eindämmung der Krankheit bei.

Ab dem 9.5.2019 bis 23.6.2019 wird das Gemälde „Volksröntgenaktion“ in der Ausstellung „Vor der Kunst. Malerei in der Kunsthochschule Dresden von 1950 bis 1990“ im Oktogon. Kunsthalle der HfBK Dresden zu sehen sein.

// Sandra Mühlenberend

Siehe auch: Dorothee Romberg: Die Röntgenreihenuntersuchung (RRU) als Mittel der Tuberkuloseprävention in Deutschland nach 1945, Dissertation am Institut für Geschichte und Ethik der Medizin der Universität zu Köln, 2011, siehe: https://d-nb.info/1011001144/34 (letzter Zugriff: 30.4.2019)