Christian Hasse "Dresdner Karneval 1945"

Christian Hasse
„Dresdner Karneval 1945“
Diplomarbeit 1958
Öl / Leinwand, 149,5 x 305 cm
Kustodie der Hochschule für Bildende Künste Dresden, Inv.-Nr. A 1468

Als der Kunststudent Christian Hasse 1958 für sein Diplom das großformatige Gemälde „Dresdner Karneval 1945“ schuf, lagen die Luftangriffe auf Dresden dreizehn Jahre zurück. Trotz massiver Aufbauleistungen nach Ende des Zweiten Weltkriegs waren die Zerstörungen noch allerorten sichtbar. Im Hauptgebäude der Kunsthochschule auf der Brühlschen Terrasse konnte man aus den rückwärtigen Fenstern die dunklen Ruinenreste der Frauenkirche sehen. Die traumatisierenden Erinnerungen an den 13. Februar 1945, einem Faschingsdienstag, hatten sich den Überlebenden im wahrsten Sinne des Wortes im Gedächtnis eingebrannt. Der damaligen Betrachter wird die unheimliche Szenerie von Christian Hasse, die auf fast surreale Weise Karnevalstreiben und Kriegsgeschehen miteinander verbindet, unmittelbar zu deuten gewusst haben, ohne dass er den erklärenden Titel dazu benötigte.

In dem querformatigen, überwiegend in Rot-, Weiß- und Schwarztönen gehaltenen Bild zieht ein Strom von Menschen von links nach rechts. Sie füllen die untere Bildhälfte komplett aus, viele von ihnen tragen Masken, einige auch Faschingskostüme. Eng aneinandergedrängt scheinen sie blindlings vorwärts zu stolpern. Hinter ihnen füllt ein glutroter Himmel die obere Bildhälfte, auf der rechten Seite zum Teil fast ganz verdeckt von gespenstisch schwarzen Ruinen.

Unmittelbar fällt der Blick des Betrachters auf eine aus der wogenden Menge herausragende, glatzköpfige Figur in einem schwarzen Gewand, dessen ins Profil gewandtes Gesicht als einziges hell und klar zu sehen ist. Aus schwarzen Augenhöhlen blickt er nach links auf einen dunklen, von Unglück kündenden Vogelschwarm, der sich der Menschenmenge nähert. Seine quadratische Maske mit einer langen spitzen Nase und breitem Grinsen trägt er in der Hand vor dem Körper, das Lachen und der Frohsinn ist ihm vergangen. Er ähnelt der Figur eines Propheten, der sehenden Auges eine grausame Wahrheit erblickt. Den Mund vor Schreck geöffnet, fasst er seinem Vordermann an die Schulter, um sie an ihn weiterzugeben. Dieser hält sich mit gespreizten Fingern eine Hand vor seine zähnefletschende, affenähnliche Maske, als sei er unentschlossen, ob er dem Grauen ins Gesicht schauen möchte oder nicht. Eine gehörnte Figur am rechten Bildrand hingegen blickt zu der prophetenähnlichen Figur empor, im Begriff, ihre Maske abzunehmen. Die voluminöse Figur in einem rot-weiß-karierten Harlekin-Kostüm vor ihm hingegen möchte offenbar nichts sehen und hält den Kopf gesenkt. Etwa in der Bildmitte findet sich eine weitere voluminöse Figur in einem rot-weiß-gestreiften Gewand, die ihren Kopf tief in eine spitz zulaufende Maske steckt, so dass er kaum mehr sichtbar ist und die Figur fast kopflos erscheint. Der Eindruck verstärkt sich durch eine über ihrer Schulter liegende Axt.

Lediglich zwei kleine Jungen vor dieser Figur scheinen von dem Geschehen um sie herum unberührt und unschuldig im karnevalistischen Spiel vertieft. Der rechte von beiden legt seinen Arm um den Freund, er trägt eine Krone auf dem Kopf und schwingt in der Hand fröhlich eine Ratsche. Der andere blickt ihn hinter einer zum Lachen verzogenen Maske an, einen spitzen schwarzen Hut auf dem Kopf.

Weitere symbolträchtige Masken erscheinen in dem Gemälde: Rechts über den Jungen ragt eine hölzerne Maske mit einem schweinsartigen Rüssel empor, direkt daneben ist ein mit einem Kopftuch bedeckter Totenkopf zu sehen. Die Figur in einem roten Kostüm mit spitzen Zipfeln am rechten Bildrand schließlich trägt ihre Maske verkehrt herum auf dem Hinterkopf, ihr zufriedener Gesichtsausdruck steht in deutlichem Kontrast zu der Szenerie, die Augen sind geschlossen. Dahinter schaut das auffallend ausformulierte Gesicht eines jungen Mannes hervor, der aus dem Bild heraus mit ernster Miene direkt den Betrachter anschaut, möglicherweise ein Selbstporträt des Künstlers.[1]

Auch andere Figuren blicken den Betrachter an. So ragt etwa am linken Bildrand ein Kopf eines Mannes hinter der Menge heraus, der mit großen Augen sehr konzentriert aus dem Bild schaut, etwas weiter rechts ist ein nach links geneigter Kopf einer Person zu sehen, die ebenfalls aus dem Bild blickt. Auch die Augen der affenähnlichen Maske sowie der Schweinsmaske scheinen auf den Betrachter gerichtet. So wird es ihm kaum möglich, sich der vom Künstler sorgfältig komponierten und dicht an den vorderen Bildrand gesetzten Menschenmenge zu entziehen. Er wird Teil von ihr und unmittelbar in das Geschehen einbezogen.

Der Künstler war zum Zeitpunkt der Bombardierung 13 Jahre alt. Er erlebte sie im Elternhaus in Bautzen. Seiner Erinnerung nach hörte er trotz der weiten Entfernung die Explosionen und sah vom Dachfenster aus den Feuerschein der brennenden Stadt. Nach Kriegsende ließ er sich zum Bau-und Möbeltischler ausbilden, bevor er 1950 nach Dresden zog, um dort eine zweite Ausbildung zum Farblithografen zu absolvieren. Jede freie Minute nach der Arbeit zeichnete und malte er in den Trümmern und in der Umgebung von Dresden, bis er 1953 schließlich ein Studium an der HfBK Dresden bei Hans Grundig begann.[2]

Hasses Diplom zeigt maßgebliche Einflüsse seines Lehrers, sowohl in der Behandlung der Farbe als auch des Themas. Grundig, der – obwohl überzeugter Kommunist – schwer mit den kunstpolitischen Forderungen seiner Zeit rang, versammelte einige seiner Werke in seinem Hochschulatelier und besprach sie mit Studierenden hinter verschlossener Tür.[3] Darunter befand sich möglicherweise auch die zweite Fassung von „Den Opfern des Faschismus“, die zwei tote, auf Goldgrund gebettete KZ-Häftlinge zeigt. Auch hier ist das große Querformat im oberen Drittel mit einem glutroten Himmel gefüllt, auf dem schwarze Vögel ihre Kreise ziehen; auch hier ist der Betrachter den dicht am unteren Bildrand liegenden, lebensgroß dargestellten Leichen unmittelbar ausgeliefert. Der an Erinnerung gemahnende Blick zurück stand der damaligen Forderung nach einem Sozialistischen Realismus, dessen Bildsprache optimistisch den Aufbau einer besseren Zukunft verdeutlichen sollte, allerdings entgegen. Direkt nach Kriegsende gemalt, wurde es mit „dem rituell wiederholten Verdikt des ‚Skeptizismus’ und ‚Geschichtspessimismus’“[4] belegt und erst 1960 in die Sammlung der Galerie Neue Meister Dresden aufgenommen, wo es zu einer der Ikonen der frühen Malerei in der DDR avancierte.[5]

Bedeutende Werke anderer Künstler, in denen direkt nach Kriegsende das Erlebte künstlerisch verarbeitet wurde, erfuhren ähnliche Schicksale. Darunter befinden sich etwa die 1945 entstandene Allegorie „Der Tod von Dresden“ von Wilhelm Lachnit, das ein kleines Kind, eine gekrümmte trauernde Frau mit einer trauernden Totenfigur vor einem ebenfalls glutroten Hintergrund darstellt, und „Das zerstörte Dresden“ von Wilhelm Rudolph von 1952, das wie zahlreiche andere Werke des Künstlers die Ruinenlandschaft der zerstörten Stadt zeigt. Sie gelangten 1957 bzw. 1959 in die Sammlung der Galerie Neue Meister der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden.[6] Hasse kannte und bewunderte nach eigener Aussage die damaligen Dresdner Gegenwartskünstler. Zudem gibt er an, sich während seiner Lithografenausbildung umfassend in der Staatlichen Kunstbibliothek über die Kunst der Moderne informiert zu haben, bis ihm das als Student der HfBK Dresden schließlich untersagt wurde.[7] Möglich, dass er darüber die Arbeiten von Karl Hofer kennenlernte, von denen er sich zu der prophetengleichen Figur hat inspirieren lassen, etwa von seinem glatzköpfigen „Rufer“ von 1935 oder dem „Mann in Ruinen“ von 1937. Möglich auch, dass er hier das Triptychon „Nacht über Deutschland“ von Horst Strempel oder die Darstellungen von Maskierten von James Ensor verarbeitete. Die nach dem Volksaufstand am 17. Juni 1953 geübte fundamentalen Kritik an der staatlichen Kunstpolitik jedenfalls ließ eine stärkere Auseinandersetzung mit der Kunst der klassischen Moderne zu, das „Melancholieverbot“[8] wurde zunehmend aufgeweicht. Mit der musealen Aufnahme von Werken, die den Krieg und seine Folgen thematisieren, konnte Ende der 1950er Jahre auch das Diplom von Hasse gewürdigt werden. Es zählte zu den anerkannten Abschlussarbeiten der Zeit und wurde mehrfach in der Aula der Hochschule ausgestellt.

Hans Grundig jedoch konnte das Diplom seines Schülers aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr selbst betreuen. Dies übernahm sein Nachfolger Herbert Schmidt-Walther, der die Abteilung Kunsterziehung leitete und Hasse 1960 als Lehrkraft an die Hochschule zurückholte. Hasse unterrichtete bis in das Jahr 1969 bei den Kunstpädagogen und dann noch weitere sieben Jahre im Grundlagenstudium der Fachrichtung Malerei. Daraufhin erhielt er eine Anstellung in einem Landmaschinengroßbetrieb in Neustadt/Sachsen, in dem er bis zu seiner Auflösung 1990 als Künstler arbeitete. In dieser Zeit sollte er noch eine ganze Reihe weiterer symbolischer Karnevalsbilder malen, die – wie er selbst sagt – verschlüsselt auf politische Probleme der DDR-Zeit anspielen.[9] Auch dabei steht er in der Tradition seines Lehrers Hans Grundig, der schon 1935-38 in der mit „Karneval“ betitelten linken Tafel seines Triptychons „Das Tausendjährige Reich“ Gesellschaftskritik übte.[10] Seit 1993 lebt und arbeitet Hasse nun in Spanien; heute prägen überwiegen stark abstrahierend-expressive bis gegenstandslose Bilder sein Werk.

// Kathleen Rosenthal

 

[1] Vgl. dazu das von Christian Hasse in streng neusachlicher Manier gemalte Bildnis seiner Familie von 1959, abgebildet in: christian hasse. Acrylmalerei 1997-2012, herausgegeben von Christian Hasse, ohne Jahr, ohne Verlag, S. 113. Seine Darstellung ist dem jungen Mann auf dem Karnevalsbild sehr ähnlich.

[2] Vgl. christian hasse. Acrylmalerei 1997-2012, herausgegeben von Christian Hasse, ohne Jahr, ohne Verlag, S. 112f.

[3] Vgl. dazu Karl-Heinz Adler: Aus meinem Leben, in: Ingrid Adler (Hrsg.): Karl-Heinz Adler. Erlebtes-Gedachtes-Geschriebenes, Altenburg 2015, S. 32.

[4] Gillen, Eckhart: „Schwierigkeiten beim Suchen der Wahrheit“. Bernhard Heisig im Konflikt zwischen ‚verordnetem Antifaschismus’ und der Auseinandersetzung mit seinem Kriegstrauma. Eine Studie zur Problematik der antifaschistischen und sozialistischen Kunst der SBZ/DDR 1945-1989, Diss. (phil.) 2002, https://archiv.ub.uni-heidelberg.de/volltextserver/4475/, S. 175.

[5] Die erste Fassung von 1946 schenkte der Künstler 1950 der Stadt Leipzig, es befindet sich heute im Museum der bildenden Künste Leipzig. Die zweite Fassung, die Grundig erst 1949 fertigstellte, wurde Ende 1955 von der TU Dresden angekauft, die eine Gedenkstätte für die Opfer des Faschismus einzurichten gedachte. Die TU übereignete das Gemälde dann jedoch 1960 der Galerie Neue Meister der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden, vgl. Kathleen Schröter: Hans Grundig, Den Opfern des Faschismus, in: Ulrich Bischoff (Hrsg.): Galerie Neue Meister Dresden, Band I, Köln 2010, S. 474 sowie Dietulf Sander: Kleine Werkmonographie. Hans Grundig, Opfer des Faschismus (1946/1947), Leipzig 2003.

[6] Vgl. Ulrich Bischoff / Dagmar Sommer (Hrsg.): Galerie Neue Meister Dresden, Illustrierter Katalog in zwei Bänden, Bd. 2 (Illustriertes Bestandsverzeichnis), Köln 2010, S. 238, 355.

[7] Christian Hasse: Über meine Aquarellmalerei in der Sächsischen Schweiz, 2006, in: christian hasse. papierarbeiten, herausgegeben von Christian Hasse, ohne Jahr, ohne Verlag, S. 155f.

[8] Gillen, Eckhart: „Schwierigkeiten beim Suchen der Wahrheit“. Bernhard Heisig im Konflikt zwischen ‚verordnetem Antifaschismus’ und der Auseinandersetzung mit seinem Kriegstrauma. Eine Studie zur Problematik der antifaschistischen und sozialistischen Kunst der SBZ/DDR 1945-1989, Diss. (phil.) 2002, https://archiv.ub.uni-heidelberg.de/volltextserver/4475/, S. 175; Paul Kaiser: Bekenntniszwang und Melancholiegebot. Kunst in der DDR zwischen Historismus und Moderne, in: Rehberg, Karl-Siegbert/ Holler, Wolfang/ Kaiser, Paul (Hrsg.): Abschied von Ikarus. Bildwelten in der DDR – neu gesehen (Ausst.-Kat. Neues Museum Weimar, 19.10.1012-03.02.2013), Köln 2012, S. 61.

[9] christian hasse. Acrylmalerei 1997-2012, herausgegeben von Christian Hasse, ohne Jahr, ohne Verlag, S. 115, dort schreibt er: „Die Bilder waren auch eine Art Abrechnung mit diesem System.“, vgl. auch Maria-Ilona Schellenberg: Zur Aquarellmalerei von Christian Hasse, in: christian hasse. papierarbeiten, herausgegeben von Christian Hasse, ohne Jahr, ohne Verlag, S. 11. Ein Gemälde mit dem Titel „Aschermittwoch“ von 1982 befindet sich heute in der Galerie Neue Meister der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden, vgl. Ulrich Bischoff / Dagmar Sommer (Hrsg.): Galerie Neue Meister Dresden, Illustrierter Katalog in zwei Bänden, Bd. 2 (Illustriertes Bestandsverzeichnis), Köln 2010, S. 151.

[10] Vgl. Birgit Dalbajewa: Hans Grundig: Das Tausendjährige Reich, in: Ulrich Bischoff (Hrsg.): Galerie Neue Meister Dresden, Band I, Köln 2010, S. 436f.