„Querschnittsmodell vom weiblichen Körper mit einsetzbaren Querschnitten aus halbtransparenter Folie“

„Querschnittsmodell vom weiblichen Körper mit einsetzbaren Querschnitten aus halbtransparenter Folie“
Metall, Holz, Kunststoff
von Gottfried Bammes,
entstanden 1955 in Dresden
Objektmaß: 174 x 60 x 44 cm / Figurenmaß 159 x 60 x 40 cm
Anatomische Sammlung der HfBK Dresden, Inv. Nr. AM334M

Eine der prägendsten Gestalten der Künstleranatomie war Gottfried Bammes, Professor für Künstleranatomie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts an der HFBK Dresden. Noch heute sind sein Publikationen zum Fach sehr populär. Fundament seiner Lehrbücher war die frühe Auseinandersetzung mit der menschlichen wie tierischen Gestalt, zuerst im Studium der Malerei und Grafik von 1951 bis 1953 an der Kunsthochschule Dresden, dann als Assistent für Tieranatomie an selbiger. Schließlich qualifizierte er sich für die Dozentur und spätere Professur des Faches durch seine Dissertation „Didaktische Hilfsmittel im Lehrfach plastische Anatomie“ (1956) und die Habilitation „Neue Grundlagen einer Methodik des Lehrfaches plastische Anatomie“ (1959). Seinem Ehrgeiz entsprach, dass er den Lehrstoff nicht unter dem Niveau eines medizinischen Anatomen beherrschen wollte. Schon 1955 legte er hierzu am Anatomischen Institut der Medizinischen Akademie Dresden eine Sonderprüfung ab.

In jenen Jahren, also zwischen 1955 und 1960 reformierte er die Künstleranatomie an der Dresdner Kunsthochschule. Er sicherte und pflegte mit seinem Assistenten Ernst Lehmann, der seit 1923 als Präparator und Anatomiegehilfe im Fach tätig war, die Anatomische Sammlung. Bammes bezog sie in weiten Teilen in seinen Unterricht mit ein, analysierte sie für seine wissenschaftlichen Studien und Lehrkonzepte und benutzte sie als Hintergrundfolie für eigene Modellkonzeptionen. Hauptaugenmerk lag auf der menschlichen Figur, deren zu erlernenden Gesetzmäßigkeiten Gottfried Bammes schon früh in einem umfassenden methodischem Lehrprogramm für die Studierenden der freien und angewandten Künste fixierte: die Gesetzmäßigkeiten der Proportionen – in der Zuordnung nach Geschlecht, Altersklasse und Konstitution, kunstanatomische Untersuchung der Form, Querschnittsuntersuchungen der unterschiedlichen Konvexität der Körperwölbungen, Untersuchung von verschiedenen Formereignissen z.B. bei der Spielbein-Standbeinstellung. Bammes forderte die Kenntnis des Skeletts, um durch den Besatz mit Weichteilformen die gesetzmäßige Oberflächenbildung zu erreichen. Ebenso sollten die Gesetze des Gesamtaufbaus menschlicher Formen durch das Wissen um die plastischen Kerne des Körpers wie Becken, Brustkorb und Schädel verstanden werden. Zu letzterem gründete er eine eigene „Forschungswerkstatt“[1], schon definiert und erprobt in seiner Dissertation und Habilitation, in der er bis zu seiner Emeritierung 1985 völlig neue Anschauungs- und Demonstration- wie Funktionsmodelle entwickelte. In ihr entstand unter anderem das eindrucksvolle lebensgroße Drahtmodell, das auf ein Verständnis der räumlichen Form des Körpers zielt. Es gehört zu einer Serie von lebensgroßen Drahtmodellen, von denen dieses und ein Torso erhalten geblieben sind. Sie waren nicht nur Demonstrationsobjekte, sondern auch Inspirationsquelle für die praxisverbundene Aufgabe in der Abschlussprüfung der Studierenden am Ende des 4. Semesters. Überwiegend die Studierenden der Bildhauerei wählten diese Prüfungsaufgabe neben der Wiedergabe des erlernten anatomischen Wissens in vorstellungsgebundenen Aktzeichnungen. Jedoch verblieb das entstandene Modell im Besitz des Schülers.[2]

Das „Lebensgroße, ganzfigürliche Querschnittsmodell“ von Gottfried Bammes, entstanden um 1955, steht aufrecht auf einem fahrbaren Holzsockel. Es ist aus Draht gefertigt, der so verbunden und gebogen ist, dass markante Zeichen einer weiblichen Figur sichtbar sind, in erster Linie vertikal. Das Modell steht mit durchgedrückten Beinen fest auf dem Podest, zusätzlich fixiert durch eine Stange vom Podest bis zum schematisierten Steißbein hin, so, wie sie oft auch bei Skelettaufstellungen verwendet wird. Die horizontalen Drahtquerschnitte, die in einem Rhythmus von oben nach unten das Modell im Inneren rastern, sind an den Enden verschweißt. Der linke Arm ist im Hüpfsturz geformt, der rechte läuft leicht nach vorne gehend am Körper entlang und zeigt seine geöffnete Hand. Der Kopf ist leicht erhoben. Die Querschnittsbesonderheiten wie an Becken, Brust oder Hüfte markierte Bammes noch zusätzlich durch einsetzbare Querschnitte aus halbtransparenter Folie.

Neben dem didaktischen Wert, in der Durchsichtigkeit der Figur verdeckte Querschnittslinien wahrzunehmen, sind Bezüge zu vorgängigen didaktischen Modellen offensichtlich. Besonders zu den „Gläsernen Figuren“ des unweit agierenden Deutschen Hygiene-Museums, das seit seiner Gründung (1911) unterschiedlichste Anschauungs- und Lehrmittel für populärwissenschaftliche Ausstellungen und zum Verkauf an Bildungseinrichtungen in eigens gegründeten Lehrmittelwerkstätten entwickelte und herstellte. Vergleichbar ist die 1935/36 entstandene „Gläserne Frau“, die erste ihrer Art[3] und Vorbild weiterer Produktionen nach 1945 in Kunststoff.[4] Hier kann durch die transparente Cellon-Körperhülle ins Innere der Figur geschaut werden; sichtbar sind die modellhaften Organe und das Knochengerüst. Die Haltung mit nach oben gestreckten Armen und leichtem Stand- und Spielbein erinnert an die griechische Statue „Betender Knabe“ (Statue von Boedas von Byzanz, um 300 v. Chr.). Gottfried Bammes wählte für seine Figur eine moderne, zweckbedingte Aktpose – fester Stand, Hüftstütz des rechten Armes und linker Arm (locker) nach unten haltend. Beide Figuren sind völlig neue Modelltypen und zielen auf ein unterschiedliches Publikum. Dennoch tragen sie einen anatomischen Modelltypus in sich, den Écorché, der als lebensgroßes Modell bzw. Statuette bis weit ins 20. Jahrhundert hinein für Medizin und Kunst gleichermaßen dem Studium der menschlichen Muskulatur diente. Einige dieser plastischen Muskelmänner waren im Rumpf geöffnet und offenbarten die Lage der Organe[5], wiederum orientiert an Anatomiedarstellungen wie sie in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts im La Specola in Florenz vorgestellt wurden. Zur Genealogie der lebensgroßen anatomischen Ganzfiguren gehört auch das Anatomiemodell „Weibliche Figur in Lebensgröße“ (Inv. Nr.: AK296M), ebenfalls im DHMD entstanden und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelt[6]. Es zeigt auf der einen Seite die Muskulatur und auf der anderen Seite die äußere Körperform. Brust- und Bauchdecke sind u.a. abnehmbar; der Blick wird frei auf das anatomische Innenleben. Gottfried Bammes waren die Bezügen und die didaktischen Werte dieser Modelltypen bewusst. Er fügte einen weiteren hinzu, die Klärung der räumlichen Schichtungen und Querschnitte eines weiblichen Körpers. Letztlich diente es aber auch zum Raumverständnis und zum Erkennen des räumlichen Rhythmus‘ skulpturaler (historischer) Anatomiemodelle in Lebensgröße, wie sie in der Sammlung und in zahlreichen medizinischen Instituten vorlagen. Es spiegelt eindrucksvoll einen wichtigen Inhalt seines Lehrkonzeptes wider, neben dem Begreifen der Körperanatomie in Zusammenhang mit der Gerüstarchitektur und den Weichteilen diese auch als räumliches Gebilde erfassbar zu machen.

Sandra Mühlenberend

 

[1] Siehe Bammes, Gottfried: Akt. Das Menschenbild in Kunst und Anatomie, Stuttgart, Zürich 1992, S. 265.

[2] Siehe Bammes, Gottfried: Von der Anatomie für Künstler zur Künstleranatomie, in: Dresden. Von der Königlichen Kunstakademie zur Hochschule für Bildende Künste (1764–1889), hrsg. v. der Hochschule für Bildende Künste Dresden, Dresden 1990, S. 579–593.1990, S. 591.

[3] Die Figur wurde am 20. August 1936 im „Museum of Science and Industry“ in New York präsentiert, danach war sie mehrere Jahre auf „Tournee“ in den USA, letztlich wurde sie dann dauerhaft in St. Louis (Missouri) gezeigt. 1988 kehrte sie nach Deutschland an das Deutsche Historische Museum Berlin zurück. Heute befindet sie sich als Dauerleihgabe des DHM in der Dauerausstellung ihres Entstehungsortes, im Deutschen Hygiene-Museum Dresden. Siehe „SAMMLUNG ONLINE“ (http://dhmd.de/emuseum2/eMuseumPlus) des Deutschen Hygiene-Museums, unter Objekttitel „Gläserne Frau“, Inv. Nr.: 2002/1 L.

[4] Seit 2017 läuft am DHMD (Leitung Julia Radtke, wissenschaftliche Mitarbeiterin der Sammlung DHMD) das Forschungsprojekt „Gläserne Figuren“, das in Kooperation u.a. mit dem Studiengang Kunsttechnologie, Konservierung und Restaurierung der HfBK Dresden die Entstehung, die Materialien und die Ausstellungs- wie Rezeptionsgeschichte der „Gläsernen Figuren“ untersucht. Siehe: http://www.dhmd.de/sammlung-forschung/forschung/glaeserne-figuren/ (Stand 29.01.2018).

[5] Siehe farbig gefasster Écorché von Eugéne Caudron (Statuette) im Flaubert-Museum und Museum zur Geschichte der Medizin in Rouen (Frankreich).

[6] Zur Entstehung und Entwicklung der anatomischen Modelle am Deutschen Hygiene-Museum Dresden: Mühlenberend, Sandra: „Anatomiemodelle im Werte- und Zeitenwandel. Lehrmittel am Deutschen Hygiene-Museum, in: Erkenne Dich selbst. Visuelle Gesundheitsaufklärung mit Wissensobjekten aus dem Deutschen Hygiene-Museum im 20. Jahrhundert, hrsg. v. Sybilla Nikolow, Dresden 2015, S. 198-212.