Muskeltorso von Carl Schütz um 1900 Gips, farbig gefasst / 102,5 x 49 x 28 x cm Anatomische Sammlung HfBK Dresden, Inv. Nr.: AG129M

Muskeltorso von Carl Schütz
um 1900
Gips, farbig gefasst / 102,5 x 49 x 28 x cm
Anatomische Sammlung HfBK Dresden, Inv. Nr.: AG129M
Foto: Petra Harzbecker, Rechte: HfBK Dresden / Kustodie

Zu den eindrucksvollsten anatomischen Objekten und zudem wertvollsten in der Anatomischen Sammlung der HfBK Dresden zählt ein farbig gefasster, lebensgroßer Muskeltorso aus Gips.[1] Hierbei handelt es sich um einen Originalabguss der berühmten Bronzeplastik von Carl Schütz, die sich im Institut für Anatomie der Charité in Berlin befindet. Der Gipsabguss ist Anfang des 20. Jahrhunderts in die Sammlung gelangt; genaue Informationen zum Beschaffungsweg liegen jedoch nicht vor.

Höchst selten sind im Bereich anatomischer Lehrmittel/Modelle ausführliche Beschreibungen des Schaffensprozesses überliefert, hingegen ist die Entstehungsgeschichte des Berliner Bronzetorsos[2] gut dokumentiert. Hans Virchow, der beratend die Entstehung begleitet hatte, schildert 1896 diese im Jubiläumsband der Kunstakademie Berlin.[3] Sie verlief nicht immer reibungslos, sie dauerte zwölf Jahre, in koalierender Zusammenarbeit mit weiteren Künstlern und Anatomen: dem Bildhauer Fritz Schaper, dem Maler Anton von Werner und neben Virchow dem Berliner Anatomen Wilhelm Waldmeyer. Zwei weitere Mitarbeiter, die an der Präparation des Vorlagenleichnams beteiligt waren, nennt Virchow in seiner Schilderung:

„Die Präparationen wurden durch die Herren Dr. Jablonowski und Greff, von denen letzterer durch eingehende Untersuchungen über Gesichtsmuskeln besonders vorbereitet war, ausgeführt. […] Die anfängliche Beschränkung auf Kopf und Büste wurde späterhin aufgegeben und der Unterrumpf hinzugefügt; noch später wurde auf Vorschlag des Bildhauers Herrn Professor Siemering auch die Hinzufügung der Arme und Beine beschlossen.“[4]

Die Vormodellierung der Plastik wurde unter Hilfenahme von Originalpräparaten (Leichnamen) aus dem Anatomischen Institut der Universität Berlin hergestellt: für den ersten Abschnitt ein Thorax nebst Halswirbelsäule, Schädel und Armstümpfen. Die Brustorgane, Zwischenrippenmuskeln und das Zwerchfell blieben in ihrer Lage, um die Gestalt des Thorax möglichst unverändert zu erhalten. Diese Anordnung erschien anfangs sehr zweckmäßig, doch stellte sich bald heraus, dass die Weichteile immer trockener wurden und ständiger Reparaturen bedurften. Man entschied sich, die Weichteile, aber auch ganze Abschnitte des Skeletts, herauszunehmen und die Wirbelsäule durch eine in den Rückenmarkskanal eingeführte Metall-Einlage zu stärken, da der durch das aufgetragene Plastilin beschwerte Kopf abbrach. Im zweiten Abschnitt wurde das Becken modelliert. Hier verzichtete man gänzlich auf die Grundlage eines Skeletts. Bei der Ausführung der Extremitäten im dritten Abschnitt überlegte man zuerst, ob man von außen nach innen oder von innen nach außen arbeiten sollte. Alle künstlerischen Berater, zum Teil auch die anatomischen, favorisierten die erste Möglichkeit: von der Gesamtform ausgehend, die unter der Haut liegenden Teile gewissermaßen durch Fortnahme weiterer Schichten darzustellen. Hierfür wurde die nach der Form vom lebenden Menschen in Plastilin ausgeführten Extremitäten als Grundlage benutzt. Es zeigte sich aber, dass diese Idee nicht ausführbar war: Gerade den dünneren Teilen, vor allem den Fingern, fehlte der nötige Halt, um darauf arbeiten zu können. Aus diesem Grund wählten die Beteiligten wieder eine Skelettgrundlage, auf diese wurde aufgetragen. Abschließend stellt Virchow in seiner Beschreibung das Ergebnis wie folgt vor:

„Im Ganzen ist in den Formen die Erscheinung eines zwar wohlentwickelten, kräftigen, aber doch nicht athletischen Körpers, und in Haltung und Ausdruck zwar Leben, aber nicht gewaltsame Bewegung angestrebt.“[5]

In vielerlei Hinsicht unterscheidet sich die Bronzeplastik von dem Gipsmodell in Dresden: Aufgrund der Bruchhaftigkeit der Arme wurden die Abgüsse der Berliner Plastik nur mit Armansätzen an Bildungseinrichtungen wie nach Dresden geliefert. Zeigt die Berliner Bronzeplastik die Textur der Muskeln, so steigert das Gipsmodell durch die farbig abgesetzten Muskelpartien den didaktischen Wert. Durch die Wahl der Bronze, die ein einheitliches Bild der Oberflächenstruktur wiedergibt und auch als Material Skulpturen im allgemeinen aufwertet, steht die Berliner Figur im Kontext eines eigenständigen Kunstobjektes, das weit über den didaktischen Wert hinausgeht. Die skulpturale Lösung im Ansatz des Kontrapostes, in dem nach vorne greifenden rechten Arm und in der gehobenen Form des Kopfes verweist nicht nur auf eine künstlerische Auseinandersetzung mit der Anatomiedarstellung des Torsos, sondern auch auf bildhauerische Umsetzungen. Dagegen ist der Dresdner Gipsabguss durch die fehlenden Arme, das Material und die Bemalung direkt auf die Form des anatomischen Modells reduziert – die künstlerische Intention rückt in den Hintergrund. Der Blick wird direkt auf die obere Muskelschicht des Kopfes und des Oberkörpers gelenkt. Alles entspricht der Präsentation von Muskeltorsi an medizin-anatomischen Instituten der Zeit. Bei beiden Plastiken (die in Berlin und die in Dresden) sind die schicht- und seitenweise herausgearbeiteten Muskeln prägnant. Die linke Rumpfseite zeigt die Muskulatur nach Wegnahme der Hautschicht, die rechte Seite tiefer liegende Strukturen – am Kopf und an den Oberschenkeln genau umgekehrt. Ein Erkennungsmerkmal ist das weggelassene rechte Ohr, damit die darunter liegenden Muskeln sichtbar werden können.

// Sandra Mühlenberend

 

[1] Dieser Beitrag ist eine Zusammenfassung der Objektgeschichte aus: Sandra Mühlenberend, Surrogate der Natur. Die historische Anatomiesammlung der Kunstakademie Dresden, München 2007, S. 80-84.

[2] Zur Berliner Bronzeplastik ausführlich: Theater der Natur und Kunst. Theatrum naturae et artis. Ausstellungskatalog, hrsg. von Horst Bredekamp, Jochen Brüning und Cornelia Weber, Berlin 2000, S. 20-37.

[3] Vgl. Hans Virchow, Zur Jubelfeier 1696–1896, hrsg. v. der Kgl. Akademie. Hochschule für die Bildenden Künste zu Berlin, Berlin 1896, S. 219-221.

[4] Ebd, S. 219f.

[5] Ebd., S. 221.