Ursula Breitfeld: „Im Chemielabor“

Ursula Breitfeld,
„Im Chemielabor“,
1956
Öl auf Leinwand, 109 x 87 cm
Diplomarbeit HfBK Dresden
Inv.-Nr. A 0230

Wir sind Zeuge eines spannenden Moments: Ein älterer Mann im weißen Mantel, ein Chemiker, steht frontal zum Betrachter, hält in fast theatralischer Geste ein Reagenzglas mit roter Flüssigkeit hoch und betrachtet es prüfend. Offenbar erfolgt gerade ein Farbumschlag oder eine Nachweisreaktion. Im Halbschatten des Hintergrunds blickt ein jüngerer Mann im blauen Arbeitskittel mit zweifelndem Blick dem Chemiker über die Schulter. Im Vordergrund stehen links auf einem Tisch ein Reagenzglasständer mit Gläsern, gefüllt mit bunten Flüssigkeiten, und in der Mitte weitere Gefäße. Die in diesem Labor ausgeführten Tests folgen offenbar einfachen Vorschriften der qualitativen chemischen Analyse; komplizierte Apparate oder Messgeräte sind nicht zu sehen. Der dargestellte Vorgang ist eher ein Sinnbild als eine bestimmte chemische Reaktion. Der Hintergrund ist nur angedeutet. Möglicherweise stellt eine hellere Fläche, die fast wie eine Gloriole über dem Chemiker schwebt, eine Dampfwolke einer weiter entfernt liegenden Produktionsanlage dar. Den Hintergrund begrenzen links eine halbhohe Rückwand und rechts ein schmaler heller Streifen.

Die Spannung der Szene wird durch eine klare, auf geometrische Formen angelegte Bildkomposition unterstützt. Die Hände des Chemikers beschreiben eine Linie mit dem Reagenzglas und liegen auf der nach links steigenden Diagonale des oberen Bildquadranten. Der farbige Inhalt des Reagenzglases liegt genau in der Mitte des Quadranten und damit im Zentrum der Szene. Die Köpfe der beiden Beteiligten bilden darüber hinaus mit den Ellenbogen des Chemikers eine Dreieckskomposition, deren Spitze nach oben zeigt und wie die Diagonale die aufwärtsstrebende Bedeutung der Handlung unterstreicht. Trotz der Dynamik vermittelt das Gemälde auch Ruhe und Kraft, denn die untere Längsseite des Dreieckes bildet ein sicheres Fundament. Der untere Streifen wird durch die Differenz zwischen Höhe und Breite des Formats definiert und bildet den Vordergrund. Der Reagenzglasständer steht links unten im kleinen Quadrat der Differenz-Seitenlänge und bildet damit einen Kontrapunkt zu den beiden Figuren. Der Tisch endet rechts unten auf der Differenz-Seitenlänge. Das Gemälde spiegelt damit die zentrale Bedeutung, die der Kompositionslehre in der Ausbildung während dieser Zeit zukam und die nicht zuletzt dazu dienen sollte, „das ideologische Bekenntnis als Kunstgestalt zu formen“[1].

Das Motiv entspricht dem „Sozialistischen Realismus“, der in der DDR erwünschten Kunst der 1950er Jahre. Allerdings ist die kraftvolle und dynamische Malweise weit entfernt vom süßlichen Kitsch. Mit expressiven Pinselstrichen und vielen Spachtelzügen sind die Flächen eindeutig hell-dunkel abgesetzt und bilden ein leicht kubisierendes Relief. Die Farbigkeit ist – abgesehen von dem leuchten weißen Labormantel – zurückhaltend grau, blau, ockergelb und ordnet sich der Komposition unter. Umso mehr stechen die leuchtend bunten Chemikaliengläser heraus.

Die Szene lässt sich als Kontrolle eines Produktionsprozesses in einem für die Zeit typischen Werkslabor deuten. Der Jüngere, vermutlich ein Produktionsarbeiter, ist zum Älteren ins Labor gekommen und harrt nun auf dessen Urteil. Möglicherweise hängt vom Ergebnis der Analyse der Erfolg des Produktionsprozesses ab. Obwohl der Labormantel, wie üblich, in einem Anflug von Lässigkeit vorne nicht geschlossen ist und den Blick auf die korrekte Kleidung des Älteren mit Schlips und Kragen frei gibt, hat er doch eindeutig die Autorität inne. Dass er im Hellen steht, betont die Bedeutung der Chemie in der Wirtschaft der DDR und die führende Rolle der Wissenschaft. Der Erste Fünfjahrplan sah 1951 vor, eine eigene Grundstoff- und Produktionsgüterindustrie, unter anderem in der Chemie, aufzubauen. Deren Stellenwert gipfelte in der auf der „Chemiekonferenz“ in Leuna 1958 geprägten Formel: „Chemie bringt Brot – Wohlstand – Schönheit“. Aus den 1950er Jahren sind mindestens zwei weitere Gemälde mit Chemikern in der Sammlung der HfBK Dresden vorhanden.[2] Die Chemie scheint die jungen Künstler und Künstlerinnen jener Zeit so fasziniert zu haben, dass sie es wert war, Eingang in das künstlerische Gestalten zu finden.

Wir danken der Künstlerin Ursula Breitfeld, seit 1959 verheiratete Schmidt, die heute hoch betagt in Dresden lebt, für die Genehmigung zur Veröffentlichung der Abbildung ihrer Diplomarbeit. Der Laudatio zum 80. Geburtstag in den Dresdner Neusten Nachrichten[3] zufolge studierte sie 1951-56 in dem vom Kunsthistoriker Dr. Fritz Löffler so benannten „starken Semester“, zusammen mit Gerhard Richter, Claus Weidensdorfer, Gottfried Körner, Horst Jokusch und Herta Günther. In der Folge wurde sie von Fritz Löffler bis zu dessen Tod 1988 gefördert. Ihren Stil hat sie über realistische Landschaften, Porträts und Stillleben bis hin zu expressiv-abstrakten Kompositionen in der jüngeren Zeit entwickelt. Nach eigener Mitteilung hat Ursula Breitfeld in ihrer Diplomarbeit den damaligen Lehrer für Chemie und Farbenlehre, Herrn Kaiser, portraitiert. Dessen Funktion im Bild scheint jedoch weniger mit einer Kunstakademie, sondern mehr mit dem Ideal eines Wissenschaftlers im Dienst einer Volkswirtschaft im Aufbau seiner Zeit zu tun zu haben. Über die Künstlerin ist im Verlag der Kunst Dresden ein Werkverzeichnis erschienen (Husum, 2015).

Kathleen Schröter sei für die Durchsicht des Textes und den Literaturhinweis gedankt.

 

Christoph Herm

 

 

[1] Reimar Börnicke: IX. Die Hochschule für Bildende Künste zwischen 1952 und 1970, in: Hochschule für Bildende Künste Dresden (Hrsg.): Dresden. Von der Königlichen Kunstakademie zur Hochschule für Bildende Künste [1764-1989].Die Geschichte einer Institution, Dresden 1990, S. 430.

[2] Jan Buck: Junge Chemielaborantin, 1953, Öl auf Leinwand, 100 x 70,5 cm, Inv.-Nr. A 0224; Erwin Jarmus: Im Labor, 1953, Öl auf Leinwand, 105 x 81 cm, Inv.-Nr. A 0456; Unbekannter Künstler: Junger Laborant, ohne Jahr, Öl auf Hartfaser, 50,5 x 71 cm, Inv.-Nr. A 0913; Unbekannter Künstler: Gespräch im Werklabor, ohne Jahr, Öl auf Leinwand, 180 x 210 cm, Inv.-Nr. A 0098

[3] Heinz Weißflog, Stille Wegbereiterin der Dresdner Kunst – Zum 85. Geburtstag der Dresdner Malerin Ursula Schmidt, Dresdner Neueste Nachrichten, 22.08.2017.