Die Anatomische Sammlung beherbergt eine Reihe an Abgüssen menschlicher Körperteile. Sie sind Zeugnis eines Ringens zwischen Antiken- und Naturstudium und stehen gleichsam für den Paradigmenwechsel in der künstlerischen Praxis des 19. Jahrhunderts, der die sukzessive Ablösung des Antiken- durch das Naturstudium betrifft. Noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bestanden künstlerische Studien für die mittleren Klassen an der Kunstakademie Dresden „im Zeichnen nach Gipsabgüssen von antiken Fragmenten, Büsten, Figuren und Gruppen. Das Studieren dauerte hier 2 1/2 Jahre und fand täglich im Gips-Zeichensaal oder in der Königlichen Sammlung der Mengsschen Gipsabgüsse statt “ (Verhaltensvorschriften für Zöglinge der Königlichen Akademie, AdKA Bd. 9, StADr). Außerhalb der Akademie richteten Künstler immer mehr ihr Interesse auf die lebendige Natur. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts befreien viele Künstler Aktdarstellungen von der Einschränkung auf religiöse, mythologische oder historische Motive. Aktmodelle nehmen vermeintlich natürliche Posen ein; ihre Haltungen werden für Unterrichtsnutzungen und zur Betrachtung abgegossen. Um 1900 verdrängten diese Gipsabgüsse „über“ und „nach“ der Natur fast vollständig die Antikenabgüsse an den Kunstakademien. Naturabgüsse wurden entweder von Gipsformereien angekauft (z.B. Gebrüder Weschke in Dresden) oder direkt in den Akademien angefertigt – oft von Körperteilen der Studierenden.
In genauer Betrachtung dieser Naturabgüsse fällt jedoch auf, dass sich diese in gewisser Weise an den antiken Vorbildern orientieren. Sind es zwar Naturabgüsse, sind die abgegossenen Haltungen jedoch oftmals künstlich, etwas gespreizt oder an antike Vorlagen angelehnt. Besonders die Oberkörper, allesamt männlich, mit angewinkelten und oft erhobenen Armen, oder die leicht angewinkelten Beine korrespondieren mit den Haltungen antiker Skulpturen – sei es in angedeuteten heroischen Posen oder im Verweis auf einen Kontrapost. Ein breite Kollektion von Naturabgüssen ist in der Dresdner Anatomischen Sammlung überliefert: Hände und Füße von Männern, Frauen und Kindern; Bein- und Armabgüsse, Rümpfe und ein Rücken. An ihnen referierte der Künstleranatom, aber auch der Lehrende für Zeichenkunst äußere Erscheinungsformen. Vielmals wurden sie auch als Zeichenvorlage – bei fehlendem Aktmodell – genutzt. Ihr didaktisch-künstlerischer Wert hielt nicht lange, wurde er doch beispielsweise durch die Arbeiten der Brücke-Künstler stark in Frage gestellt. Denn als Zeichenvorlagen waren die gipsernen Körperteile für die Darstellung lebender Körper kaum geeignet. Die gezeichneten Körper blieben wie ihre Vorlage ‚unbelebt‘ und fragmentiert. Für das geübte Auge ist schnell sichtbar, ob der Künstler oder angehende Künstler ein Aktmodell zeichnete oder ein Gipsmodell bemühte. Letztlich verschwanden die Naturabgüsse spätestens nach dem zweiten Weltkrieg aus dem Unterricht und den Sammlungen der Kunsthochschulen; die Dresdner konservierte ihre stark angewachsene Kollektion in der anatomischen Sammlung. Heute werden sie teilweise wieder zum Zeichnen genutzt, jedoch nicht in zeichnerischer Animation einer Verlebendigung, sondern als Objektvorlage, dessen Eigenheit (z.B. Material, Struktur, Historizität) zum zeichnerischen Inhalt wird.
// Sandra Mühlenberend