E?corche?

Écorché (Fragment der unteren Extremität)
Kopie, ohne Jahr
Nach Jean-Antoine Houdon
Gips und Metall, weiß gefasst, 117 x 57 x 57 cm (Figurenmaß 108 x 36 x 50 cm)
Inv. AG120M

Das Fragment der unteren Extremität gehörte ursprünglich zu einem Gipsabguss als Kopie des Écorchés von Jean-Antoine Houdon. Écorchés sind freiplastische, sogenannte Muskelmänner, die seit dem 16. Jahrhundert sowohl als Kunstwerk als auch Lehr- und Studienmodell von zahlreichen Künstlern in verschiedenen Ausführungen angefertigt worden sind. Die berühmteste stammt von Houdon, der die Originalskulptur während seines Aufenthaltes 1764-1768 an der Académie de France in Rom modelliert hatte. Sie entstand analog zu zwei kolossalen Marmorstatuen der Schutzheiligen des Ordens der Karthäuser, dem Heiligen Bruno und dem Heiligen Johannes des Täufers, die Houdon für deren Kirche Santa Maria degli Angeli anfertigte.
Houdon war schon früh bewusst, dass neben dem Kopieren antiker Bildwerke das Studium der menschlichen Anatomie, insbesondere der Muskelpartien und des Knochengerüstes, Voraussetzung für jede bildhauerische Tätigkeit ist. Er widmete sich in Rom intensiv der Anatomie, speziell bei dem berühmten Chirurgen Séguier im Ospedale San Luigi dei Francesi, der seinen Unterricht anhand von Leichen durchführte. Schon schnell wurden die vorbildlichen Werte des Écorchés erkannt; es war von all seinen Skulpturen das populärste Bildwerk, von dem der Künstler auch die meisten Abgüsse anfertigte und an Kunstakademien in Europa und Amerika verkaufte. Anhand der zahlreich in den Akademien angefertigten Skizzen und Zeichnungen sowie der Motivverwendungen in Gemälden kann davon ausgegangen werden, dass die meisten Kunststudenten im 19. und auch noch zu Anfang des 20. Jahrhunderts an Houdons Muskelmann unterrichtet worden sind.

Drei Versionen dieser anatomischen Skulptur waren im Umlauf:
Écorché au bras tendu
Écorché réduit (1766/7), au bras partiellement (1776)
Écorché au bras leve (1790).

In der HfBK Dresden finden sich heute eine Kopie des Écorché réduit (Kleinplastik) sowie der Gipsabguss der unteren Extremität der lebensgroßen Skulptur, wobei der ursprüngliche Abguss die ganze Figur umfasste und zweigeteilt war; welche Version vorlag, kann durch den fehlenden Oberkörper nicht bestimmt werden.
Die gründliche Naturbeobachtung am Menschen mit der Fähigkeit zur Abstraktion des Bildhauers lässt sich an der Figur der unteren Extremität sehr gut erkennen. Houdon schuf eine lebensnahe, ansprechende Idealkomposition von klassischen Proportionen. Obwohl alle Details präzise modelliert sind, ordnen sie sich der großen plastischen Form unter. Houdon bezog sich auf den antiken Kanon der Proportionen und verfolgte zugleich eine ästhetische Wirkung, die vor allem über das klassische Stand-Spielbein hin zum (hier fehlenden) ausgestrecktem rechten Arm bis zum kantig modellierten Kopf auf eine idealisierte Anatomie zielte. In Konzentration auf markante Muskel- und Sehnenstränge, bei gleichzeitiger Vernachlässigung der Darstellung der natürlichen Kontraktion der Antagonisten, erzeugte der Künstler eine durchgehende Dynamik.

Sandra Mühlenberend