Eine Beinanatomie aus Wachs und deren Untersuchung mittels Röntgenstrahlen

Anatomie Unterschenkel (untere Muskeln), Inv.-Nr.: AW142M

Anatomie Unterschenkel (untere Muskeln)

Anatomische Sammlung, Inv.-Nr.: AW142M
Rechte: HfBK Dresden / Kustodie,
Röntgenaufnahme: Kerstin Risse / Ivo Mohrmann

Seit der Renaissance bildeten anatomische Zeichnungen und Modelle einen Kontaktpunkt zwischen Kunst und Wissenschaft. Während die Mediziner ihr Wissen über den Aufbau des Körpers einbrachten, waren es Künstler, die funktionale Zusammenhänge gestalterisch darzustellen vermochten. Nachdem Leichensektionen jahrhundertelang mit dem Kirchenbann belegt waren, regelten päpstliche Erlässe von nun an das Anatomiestudium an menschlichen Leichen. Dieses führte nicht nur die Gelehrten zusammen, sondern wurde auch von der feinen Gesellschaft des 16. Jahrhunderts mit Interesse verfolgt. In den anatomischen Theatern wie beispielsweise in Padua (eröffnet 1594) fanden die Leichenöffnungen im Rahmen prunkvoller Zeremonien statt, die sich über mehrere Tage hinzogen.

Für die Ausbildung von Medizinern und den Anatomieunterricht an den zahlreichen im 18. Jahrhundert neu gegründeten Kunstakademien benötigte man präzise Lehrmittel, deren Herstellung vor allem Künstler und Präparatoren herausforderte. Der niederländische Anatom Frederik Ruysch (1638-1731) hatte nicht nur Konservierungsverfahren für menschliche Leichen entwickelt, sondern injizierte darüber hinaus in einer sehr aufwendigen Prozedur Mischungen aus Talg, Wachs und Zinnober in das Gefäßsystem. Auf diese Weise konnte der fein verzweigte aus Venen und Arterien bestehende Gefäßbaum des Menschen sehr genau erforscht und dauerhaft sichtbar gemacht werden.

Der Bedarf an Anschauungsobjekten stieg mit der Herausbildung der Anatomie als Hilfswissenschaft rasant an und war mittels der kostbaren und zudem sehr empfindlichen Präparate allein nicht mehr zu befriedigen. Im 18. Jahrhundert fanden Bossierer in Bologna und Florenz, die bisher vorwiegend Wachsfiguren, künstliche Perlen und Puppengesichter hergestellt hatten, vor diesem Hintergrund ein neues Betätigungsfeld: die Herstellung detailreicher und sehr genauer Anatomiemodelle. Besondere Berühmtheit erlangte die Anatomin und Künstlerin Anna Morandi (1714-1777), die es verstand, menschliche Körperteile und Organe präzise nachzubilden. Auf dieser Grundlage lehrte sie sogar als Honorarprofessorin an der Universität Bologna.

Während das zum Modellieren benutzte Bossierwachs aus in Terpentinöl gelöstem Bienenwachs, Schweineschmalz und Pigmenten bestand, wurde das Wachs für Abgüsse mit Kolophonium versetzt und mit Zinnober, Mennige, Bolus, Mastix, Bleiweiß oder Grünspan eigefärbt. Anschließend füllte man die erhitzte Masse in Formen aus Holz oder Gips. Bossierer fügten dann die vorgeformten oder frei erfundenen Einzelteile zusammen. Diese Herstellungstechnik lässt sich auch an den zu den wertvollsten Exponaten der Anatomischen Sammlung der HfBK Dresden gehörenden Wachsmodelle nachvollziehen.

Wann und wo die sieben Arm- und vier Beinanatomien gefertigt wurden, ist unbekannt. Übereinstimmungen im Erscheinungsbild und in der Aufstellung auf gedrechselten Sockeln weisen, so Sandra Mühlenberend, auf die Werkstatt im 1856 gegründeten Pariser Grand Musée anatomique des Doktor Spitzner hin[1].

Offensichtlich ist die von uns näher betrachtete Beinanatomie (Inv.-Nr.: AW142M) aus mehreren separat eingefärbten und gegossenen bzw. modellierten Einzelstücken aneinandergefügt. Größere Stücke waren hohl und wurden üblicherweise mit Lappen, Werg oder Holzstücken ausgefüllt. Das Zusammensetzen der im Wasserbad oder durch Terpentin erweichten Teile verlangte viel Präzision und Geschick. Es schloss sich die Oberflächengestaltung durch Polieren, Gravieren und das Aufsetzen der Sehnen an. Den Abschluss bildete ein schützender Firnisüberzug, der zugleich den nötigen Glanz erzeugte.

Eine von uns angefertigte Röntgenaufnahme[2] von diesem Modell zeigt einen in einem gedrechselten Holzsockel verankerten und mehrfach gebogenen etwa 1 cm starken Stab, der die Röntgenstrahlung vollständig absorbiert, was auf dessen Beschaffenheit aus Metall hinweist. Dieser Stab dient im Verbund mit zwei dünneren Stäben als Armierung für die Ausformung der Fußwurzel bzw. des Mittelfußes. Ein schwach absorbierender Dübel (Holz?) im Innern des Fersenbeins ist für dessen Stabilität verantwortlich. Mittels 11 kleiner Nägel befestigten die Ceroplastiker extra gefertigte Wachsstreifen, die die Sehnen darstellen. Ob diese möglicherweise etwa mit Textil- oder Lederstücken armiert sind, bleibt weiteren Untersuchungen vorbehalten.

Ivo Mohrmann

 

[1] Sandra Mühlenberend, Surrogate der Natur, München 2007, S. 121-125.

[2] Kerstin Risse und Ivo Mohrmann am 08.01.2018.