Anton Kammerer: Stadt-Mensch-Alltag

Anton Paul Kammerer,
Stadt-Mensch-Alltag
1980
Mischtechnik auf Hartfaser, 130 x 110 cm,
Inv.-Nr. A 0549

„Mehrfiguriges Tafelbild“ – so lautete 1980 die Diplomaufgabe für Anton Paul Kammerer, der zu diesem Zeitpunkt seit fünf Jahren an der Hochschule für Bildende Künste studierte, zuletzt bei Jutta Damme. Ein vielfiguriges (Historien-)Bild galt lange Zeit als höchste Disziplin unter den verschiedenen Genres der Malerei in der Geschichte der Kunst. Als Absolvent einer künstlerischen Hochschule sollte Kammerer zeigen, dass er dieser Herausforderung gewachsen war.

Die inhaltliche Ausgestaltung dieser Aufgabe war jedoch dem Studenten überlassen. Anton Kammerer wählte das Thema „Stadt – Mensch – Alltag“ und schuf dazu mehrere Gemälde, Grafiken und Collagen. Eines der Gemälde zeigt leicht abstrahierend ein voll besetztes Café. Der in einfacher Zentralperspektive angelegte und vollkommen schmucklose Raum öffnet sich nach vorn und gibt den Blick frei auf dicht gedrängte Personen und drei kleine, runde Tische mit weißen Tischdecken. Eine Fensteröffnung am rechten Bildrand lässt ein Stück grauen Himmel über einer Dachkonstruktion sichtbar werden, die an das Gebäude des Hauptbahnhofes oder des Neustädter Bahnhofes in Dresden erinnert.

Frontal steht der Betrachter den Cafébesuchern gegenüber, doch keiner der dort abgebildeten Personen blickt auf ihn. Sie beziehen den Betrachter nicht mit ein, sondern bleiben durch ihren Gesichtsausdruck und ihre Körperhaltung merkwürdig abwesend und distanziert. Trotzdem ist der Betrachter durch den angeschnittenen Bildraum und die in den Vordergrund gerückten Menschen ganz nah an der dargestellten Szene, fast wie ein Voyeur kann er die einzelnen Cafébesucher studieren: Die Frau im violetten Kleid am linken Bildraum, die – das Gesicht in eine Hand gestützt – nachdenklich nach unten schaut. Die Frau neben ihr, in einem dunklen Kleid mit tiefem Ausschnitt, die mit niedergeschlagenen Augen ebenfalls nach unten schaut. Ihr gegenüber am linken Bildrand der glatzköpfige Mann, der mit einer Zigarre im Mund geradeaus stiert. Die Frau hinter ihm im gestreiften Oberteil und stark rot geschminkten Lippen, deren verschattete Augen keine Blickrichtung erkennen lässt. Und schließlich die zentrale Frau, die mit einem auffällig roten, schulterfreien Kleid allen Blicken preisgegeben in der Mitte des Cafés steht, die Augen in eine unbestimmte Ferne gerichtet, das Gesicht an die Malerei Picassos erinnernd. Ihr rotes Kleid setzt zusammen mit dem roten Lippen der rechten Frau und dem roten Stück eines Teppichs einen starken Farbkontrast zu den gedeckten Farben, die das Gemälde dominieren. Aufgrund der auffälligen Kleidung der Personen, die wie auf einer Bühne drapiert sind, lässt sich ihre Herkunft in einem kulturellen Umfeld vermuten. Drei weitere Personen hinter der Szenerie, deren Gesichter nicht ausgearbeitet sind, vervollständigen die Gesellschaft.

Jeder Einzelne in dem Café verharrt in seiner Position, in sich gekehrt, keiner unterhält sich. Vor dem Glatzkopf steht ein Gefäß mit einer Flasche, ansonsten sind die Tische leer. Kein Geschirrgeklapper kann so erklingen, kein Stimmengewirr liegt in der Luft, stattdessen scheint der Raum in tiefes Schweigen gehüllt. Und obwohl sich die Cafébesucher alle dicht aneinander drängen, besteht keine Blickbeziehung zwischen ihnen, keinerlei Verbindung.

Unwillkürlich denkt man bei diesem Gemälde an die Großstadtbilder von Otto Dix und George Grosz, die in einem scharfen Verismus die Gesellschaft der 1920er Jahre analysieren und ihre Abgründe in fast karikaturhaften Darstellungen offenlegen. Frauen in luftigen Kleidern mit tiefrot geschminkten Lippen sowie Männer in schwarzen Anzügen und dicken Zigarren im Mund waren damals die ikonischen Vertreter einer verkommenen Gesellschaft. Anders als bei Dix und Grosz sind sie bei Kammerer nicht Teil eines wilden Nachtlebens, sondern einer nachmittäglichen Caféhausszene, in der die Akteure zur Leblosigkeit verdammt werden. Die Absicht aber ist die gleiche: Der Gesellschaft wird ein Spiegel vorgehalten. Und der zeigt nicht das Ideal einer sozialistischen Menschengemeinschaft, in der jeder einzelne aufgehoben ist, sondern eine Masse isolierter Individuen in einem tristen Café. Die Großstadtmenschen scheinen unfähig, miteinander ins Gespräch zu kommen, möglichweise als Folge einer zum Ende der DDR zunehmenden Überwachungspolitik. In dieser Lesart könnte man in den nur angedeuteten Personen im Hintergrund die Spitzel des Systems sehen. Vielleicht ist es aber auch nur persönliches Unvermögen oder auch Unwille der Cafébesucher in Kontakt zu treten. Im übertragenen Sinn zeigt sich die Kraft der Zerstörung des menschlichen Miteinanders in den mutwillig vom Künstler zugeführten Kratzspuren im Bild.

Und noch eines spiegelt das Bild: Gemälde mit einem potentiell gesellschaftskritischen Inhalt wie dieses hier wurden zu dieser Zeit (anders als in den ersten beiden Jahrzehnten der DDR) hingenommen und fanden sogar Eingang in repräsentative Ausstellungen. Seit dem Wechsel von Walter Ulbricht zu Erich Honecker 1971 galt: Solange Kritik konstruktiv war und den Sozialismus als solches nicht in Frage stellte, konnte sie in der bildenden Kunst geäußert werden. Auf diese Art und Weise bildeten Kunstwerke nicht selten ein Diskussionsforum, über das kunstinteressierte Betrachter gesellschaftliche Themen verhandelten.

Kathleen Schröter